Slut up de Harten !

Der Wismarer Sport 1989/90: Wenn Handballer, Boxer, Leichtathleten oder Fußballer politische und menschliche Gräben überwinden …

Der Stadtsportbund Wismar zählt heute mehr als 5000 Mitglieder in 42 Sportvereinen sowie 5 Fachverbänden. Kontakte zu Vereinen nach Schleswig-Holstein, Hamburg oder Niedersachsen sind heute Normalität, eine Selbstverständlichkeit. Kaum mehr zu glauben,  dass das alles einmal weniger „normal“, weniger „selbstverständlich“, ja von einer politischen Obrigkeit „unerwünscht“ war.

Vor 18-19 Jahren galten intensive Kontakte – jenseits der „öffentlichen Kanäle“ der SED und ihrer Blockpartner bzw. Massenorganisationen – alles „staatsfeindlich“, ja „feindlich“.
„Der `Klassenfeind` stand in Lübeck, in Hamburg oder in Kiel …“, so suggerierten es jedenfalls die damaligen Machthaber in der damaligen DDR.

Der Titel „Klassenfeind“ allein ist schon brutal, wird hier die Lübeckerin oder der Kieler nicht mehr als Mensch dargestellt, sondern als „agressives Subjekt“. Hier wurde der Mensch (West) gegen den Menschen (Ost) gestellt: die SED-Machthaber maßten sich an, über alles zu stehen, sogar über der Menschlichkeit.

Die brutale Grenze tat ein Übriges, die Menschen, in diesem Fall Schleswig-Holsteiner und Mecklenburger. gewaltsam zu trennen.
Schafften diese Machthaber es ? Gott sei Dank, nicht. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen westlich und östlich der Elbe konnte nicht zerstört werden, der Freiheitsdrang auch der Mecklenburger und Vorpommern erwies sich stärker als jede Agitation, als alle Repressalien und Unterdrückung durch das Regime in der DDR.

Allerdings – die SED und ihre Blockpartner schafften es, das Gefühl des Zusammengehörens empfindlich zu treffen, das Miteinander auszublenden und Zwietracht zu säen.
Manche Auseinandersetzung auch zwischen Lübeckern oder Wismarern, ob auf persönlicher oder politischer Ebene, resultiert aus der Zeit der erzwungenen Trennung von mehr als 40 Jahren, die tiefste Wunden hinterließ, die noch immer nicht völlig verheilt sind.

Hier gilt es gegenzusteuern, trotz schwierigster Zeiten auch anno 2008, auch jetzt weiterhin das Miteinander zu suchen, vorhandene Verbindungen zu erhalten und zu vertiefen, neue Kontakte herzustellen. Das ist schon deshalb so ungemein wichtig, da sonst diejenigen in Ost aber auch in West gewonnen hätten, denen die deutsche Einheit schon immer ein Dorn im Auge war. Und denen Menschlichkeit eher eine Nebensächlichkeit bedeutete …

Zur Einweihung des Grenzsteines Schlutup 1954 (gestiftet vom Steinmetz Herrn Dormann) an der damaligen innerdeutschen Grenze trug ein junges Mädchen ein bewegendes Gedicht vor, das noch heute nichts von seiner Aktualität verloren hat und ein echter Aufruf zur Menschlichkeit ist und eine Sehnsucht zu einem wirklichen Miteinander zum Ausdruck bringt:

Slut up de Harten

Slut up de Harten
un de Sinn
un last uns een
to’n annern finn‘!

Slut up de Grenzen,
de solang uns deelt
up dat de Wunden
endlich wedder heelt!

Slut up,slut up
Ward allerhöchste Tied
denn sonst versteihst am Enn‘
nich mehr de von de anner Sied !

(Schließt auf die Herzen und die Sinne und lasst uns einen zum anderen finden ! Schließt auf die Grenze, die uns schon so lange teilte, auf das die Wunden wieder heilen ! Schließ auf, schließ auf ! Es wird allerhöchste Zeit, denn sonst versteht du am Ende diejenigen von der anderen Seite nicht mehr !)

Wenn sich jetzt zum 19.Mal der Fall der Berliner Mauer und das friedliche Niederreißen des Stacheldrahtes an der ehemaligen innerdeutschen Grenze am Sonntag jährt, dann sollte auch das der Anlass sein, darüber nachzudenken und zugleich aktiv zu werden, wie man das deutsch-deutsche Miteinander noch verstärken könnte, und die mitunter immer noch vorhandene „Mauer in den Köpfen“ endgültig abzutragen wäre.

In Wismar regte sich jedenfalls  schon früh – gleich  nach dem Mauerfall 1989 – der Wunsch nach einem verstärkten Miteinander mit den „anderen Hanseaten“ aus Lübeck. Dieses Engagement fand dabei in der Stadt des schmackhaften Marzipans ebenfalls viel Gegenliebe.

Anteil an den neuen sportlichen Kontakten 1989/91 nach Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen, Bremen, aber auch nach Dänemark sind mit den Namen von Kerstin Groth oder Erich Mühlenbeck, Wolfgang Tepasse oder Harald Schütt, Fiete von Thien, Peter Spiekermann, Erwin Meyer, Peter Schönen oder Holger Röpke verbunden.

Doch wie sahen die ersten Kontakte aus ? Wie sahen die ersten sportlichen Kontakte zwischen Wismar und Lübeck aus ? Gab es erste gemeinsame Veranstaltungen zwischen den Wismarer und Lübecker Sportorganisationen ? Wie war die Situation im Wismarer Sport ?

Hier einige Höhepunkte des neuen sportiven Miteinanders zwischen Wismar und Schleswig-Holstein von Dezember 1989 bis März 1990 – ein Ausdruck aufrichtigen Interesses füreinander und wieder einmal Beweis dafür, dass der Sport „Vorreiter“ für andere Bereiche ist …

> Kontakte nach Lübeck geknüpft: Neue Kontakte zwischen Wismarer und Lübecker Sportfreunden wurden Ende Dezember 1989 und Anfang 1990 geknüpft. Nachdem am 29.Dezember die Kinder von TuS Lübeck 93 beim Schifffahrt/Hafen-Turnier (Fußball) in Wismar den dritten Platz erreichten und anschließend im Eis-Cafe Gerlach in Redentin viele neue Freundschaften zwischen Wismarer und Lübecker Sportfreunden geknüpft wurden, fuhren die ersten Senioren von S/H Wismar zum Turnier am 30.Dezember nach Lübeck. Dort belegten die Wismarer den vierten Platz. Ein Wismarer wurde aber bester Spieler des Turnieres. Es war – Dirk Broberg. Geschenke gab es für die Wismarer Gäste zusätzlich: eine Videokassette über ihre Spiele in Wismar und einen Video-Recorder.

> Kraftsport auch für Frauen: Ab Mitte Januar 1990 „durften“ auch die Frauen an die „Hanteln“. Im Kraftsportraum des Hochhauses in der Richard-Wagner-Strasse fand ab diesem Zeitpunkt ein Fitnesskurs für Frauen aller Altersklassen statt. Die Teilnahmegebühr betrug zwei DDR-Mark.

> Jahresauftakt für TSG-Handballerinnen: Am 20.Januar 1990 begann für die Handball-Damen der TSG Wismar wieder der Punktspiel-Alltag in der DDR-Oberliga. Gegner in der Wismarer Sporthalle waren die Tabellen-Letzten von Union Halle Neustadt, die wie die TSG in der Saison 1989/90 noch keine Pluspunkte aufwiesen.
In Vorbereitung auf dieses Spiel gewann die TSG-Mannschaft unter Trainer Walter Heilmann das Team aus Buxtehude mit 24:23 und siegte außerdem klar gegen die Mannschaft aus Groß-Grönau (Lübeck).
– Das Oberliga-Spiel gegen Halle gewann letztendlich die TSG mit 25:19, nachdem man zur Halbzeit noch 10:11 zurückgelegen hatte. Bis zur 55.Minute stand es knapp 19:18 für die TSG, ehe diese, den Hallenserinnen spielerisch überlegen, in einem furiosen Endspurt (6:1-Tore in den letzten fünf Minuten) alles „klar“ machte

> Neue Kontakte in Richtung „West-Germanien“ knüpften Mitte Januar 1990 auch die Keglerinnen und Kegler des WBA 43 aus Wismar-Wendorf und der Kegelklub Malente 111. Am 19.Januar 1990 wurde dann im Beisein von Malenter Kegelfreunden aus dem alten WBA 43 ein neuer Verein. Der Wendorfer Kegel-Club (WKC) wurde an diesem Tag gegründet. Sportliche und persönliche Besuche bzw. Gegenbesuche wurden dabei zusätzlich geplant.

> Runder Tisch zum Thema Sport: Im Januar 1990 luden die Initiative 89 und der DTSB-Kreisvorstand zu einem Runden Tisch zur Thematik Sport ein. Nur 21 Sport-Freunde und Sport-Verantwortliche folgten jedoch dieser Einladung. Als Diskussionsgrundlage diente ein Positionspapier des Kreisvorstandes, was im Ergebnis intensiver Gespräche, Beratungen mit allen Leitungen der Sportgemeinschaften und Fachausschüsse entstanden war und auf einer Kreisvorstandssitzung am 19.Dezember beschlossen worden war. Neben zahlreichen Problemen, wie der künftigen Arbeit im Breiten-, Wettkampf- und Leistungssport, kam man immer wieder auf ein Thema zurück. Der Sport als gesellschaftliches Anliegen braucht gesellschaftlichen Aufwand.

Trotz vielfältigster Initiativen der Sportler selbst, ist es nicht möglich, dass sich der Sport selbst finanziert. Dazu äußerte sich in der Runde Oswald Müller, Direktor der Mathias-Thesen-Werft, Trägerbetrieb der mit fast 3000 Sportlern mitgliedergrößten Gemeinschaft der Region. „Wismar hat einen Namen als Sportstadt und so soll es auch bleiben.“, meinte Oswald Müller. Nach wie vor bestehe das Gesetz zur Unterstützung der Sportgemeinschaften durch die Trägerbetriebe. Berechtigt forderte der Redner eine ausgewogene und enge Verbindung zwischen dem Breitensport, der Talenteförderung, dem ÜTW und dem Leistungssport. In der MTW gibt es eine Planstelle für einen Sportorganisator, der sich um ein breites sportliches Angebot für die Werftarbeiter kümmern soll.

Alle Teilnehmer des Runden Tisches zum Thema Sport kamen überein, dass nicht alles in der Vergangenheit im Sport schlecht war, was „uns“ einige Leute „weismachen“ wollen. Auf der Vertrauensleute-Vollversammlung unterbreitete der Werftdirektor den Vorschlag zur Finanzierung „seiner“ Sportler der TSG Wismar. Bei aller Brisanz, gerade in der heutigen Zeit, die Vertrauensleute stimmten einhundertprozentig zu. So sollte die TSG mit annähernd 500000 Mark aus dem K- und S-Fonds 1990 so unterstützt werden, wie 1989.

Auch Vertreter anderer Betriebe, z.B. die Fleischwirtschaft oder der VEB Seehafen, erklärten ihre Bereitschaft, den Sport weiter fördern zu wollen. Bedrückende Stimmung herrschte allerdings bei den 1100 Mitgliedern der HSG Wismar. Die weitere Finanzierung der HSG war zu jenem Zeitpunkt noch offen. Andere Vereine und Abteilungen mussten finanzielle Kürzungen oder gar „Streichungen“ ihrer bisherigen Patenbetriebe hinnehmen, so die BSG Lok Wismar oder das TZ Kanu. Beschlossen wurde auch eine enge Kooperation mit Vereinen aus Schleswig-Holstein.

> Ost-West-Kontakte: Das Auftreten der Tischtennis-Sportler der BSG Post in Lübeck bei der Sektion von 1876 stand unter dem Zeichen einer herzlichen Gastfreundschaft. In den einzelnen Vergleichen gab es folgende Ergebnisse: Lübeck 1876 I vs. Post I 6:11, Lübeck 1876 II vs. Post II 10:8 und Lübeck 1876 III vs. Post III 10:2. Rückspiele in Wismar wurden für Mai 1990 geplant. Beim 11.Städtevergleich im Rettungsschwimmen am 10.Februar kam es zu interessanten Vergleichen. Neben den Mannschaften aus Pirna, Ludwigsfelde, Rostock, Stralsund ging zum ersten Mal in der Wismarer Schwimmhalle eine Mannschaft der DLRG Lübeck an den Start.  

Außerdem war die erste Fußball-Mannschaft der TSG Wismar bei TuS Holstein Quickborn zu einem Großfeldvergleich und zum neunten Hallen-Fußball-Turnier um den EUROPA-Pokal eingeladen. Nach dem Großfeldspiel trennten sich die Teams 2:2. Beim EUROPA-Hallenturnier belegte das Team nur den sechsten Rang – aber auch hier stand das gegenseitige Kennenlernen im Vordergrund.

> Viel Spannung und neue Freundschaften gab es außerdem beim 11.Hallen-Fußball-Turnier der TSG Wismar in der ausverkauften Sporthalle an der Bürgermeister-Haupt-Strasse. Erstmals waren mit TuS Holstein Quickborn und Bramstedt TS zwei westdeutsche Mannschaften dabei. Sieger des Turnieres wurde der Hansa-Nachwuchs, die TSG wurde Sechster.

> Fußballspieler in Aktion: Der Bezirksklassen-Vertreter Schifffahrt/Hafen Wismar konnte sich im Februar 1990 in der Sporthalle Wismar als erstes Team in die Chronik des Hanse-Hallenturnieres des KFA Wismar eintragen. SH Wismar siegte vor TSV Siems und TSV Schlutup.
Die studentischen Fußballer der HSG aus Wismar weilten unterdessen zu zwei Vergleichen in Lübeck. Gegen den VfB gab es ein 0:3 und ein 2:2.

> Neue Kontakte: Eine Delegation der Bad Bramstedter Turnerschaft unter der Leitung des Ehrenvorsitzenden Hans Andresen und des Vorsitzenden H.-J.Kütbach weilte Ende Februar 1990 bei der TSG. Dabei ging es um die Belebung alter Traditionen und gemeinsame Veranstaltungen im Jahre 1990. So sollten die Leichtathleten (AK 10-12) im April zu einem Trainingslager nach Westdeutschland kommen, die Handball-Männer bzw. –Senioren ebenfalls im April. Die Bramstedter hatten ihrerseits, mit den Turnern in Kontakt zu treten und waren an einem Lehrlingsaustausch interessiert. Funktionären der TSG wurde angeboten, kostenlos an Lehrgängen in Westdeutschland teilzunehmen.

> Vorbereitungen zur Hanseschau: Zu den ersten konkreten Vereinbarungen zwischen den Leitungen des TSB Lübeck und des DTSB Wismar gehörten die gemeinsamen Vorbereitungen zur ersten Hanseatischen Sportschau der Partnerstädte Mitte März unter dem Motto „Slut up de Harten“. Geplant war dabei, dass ein Städtelauf von Lübeck nach Wismar – mit 14 Sportfreunden – die 52 Kilometer lange Strecke in Angriff stattfinden und von Radsportlern bzw. Radwanderern begleitet werden sollte. Gast-Star in spe: die westdeutsche Disco-Queen des Jahres 1989.

> Die erste hanseatische Sportschau der Partnerstädte Lübeck und Wismar begann am 17.März 1990 um 10.00 Uhr am Grenzstein Schlutup. 14 Läuferinnen und Läufer aus dem Ost- wie Westteil Deutschlands hatten sich dort getroffen, um die mehr als 50 Kilometer im Laufschritt zurückzulegen. Die Veranstaltungen, der Zuspruch dann in der Sporthalle Wismar übertraf dann letztendlich alle Erwartungen der Organisatoren, des DTSB Wismar wie des TSB Lübeck.

Rund zwanzig Teams aus beiden Teilen Deutschlands gestalteten eine Sportgala, die mehr als 1500 Besucher in der Sporthalle Wismar begeisterte. Nach Angaben des damaligen TSB-Vorsitzenden Hans-Jürgen Sterly habe man nicht nicht nur von Partnerschaft geredet, sondern diese auch praktiziert. In dreieinhalb Stunden wurde ein facettenreiches Programm gezeigt, dass somit sogar 60 Minuten länger als ursprünglich geplant dauerte. Höhepunkte waren die Läufer mit Kurt Bensch, das Männer-Ballett des TSV Kücknitz, die jungen Turnerinnen der TSG Wismar, die Akrobaten-Gemeinschaft und die Aufführungen der Rollkunst-Weltmeister Peter Wulff und Michaela Mitzlaff. „Slut up de Harten“ war das Motto der Veranstaltung – und bei der ersten hanseatischen Sportgala wurde dieses auch gelebt.

– „Slut up de Harten“ – das Motto galt und gilt immer noch, nicht nur im Sport, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zwischen Ost und West.
Was „gestern“, 1989-1991 in der Zeit der großen Veränderungen, möglich war, sollte jetzt doch erst recht drin sein.

M.Michels (SSB Wismar)

 

F.: 1. Fußballsportlicher Nachwuchs im neuen Wismarer Stadion des PSV. (MM) 2. Grenzstein Schlutup (Grenzdokumentationsstätte Lübeck-Schlutup). 3. „Sport verbindet die Welt !“ – Dieses Motto scheint die junge Sportlerin mit ihrem „Welt-Ball“, bei der BUMMI-Olympiade im Kurt-Bürger-Stadion in Wismar zu demonstrieren. (MM)