10 Jahre Bologna – eine Zwischenbilanz und Ausblick

Ver.di: Eingeleiteten Reformen erbrachten bisher nur in Andeutungen die erwünschten Ergebnisse.

Mit dem Ziel einen einheitlichen europäischen Hochschulraum (European Area of Higher Education) zu schaffen, haben am 19. Juni 1999 in Bologna die Bildungsministerinnen und Bildungsminister aus 29 europäischen Staaten die Erklärung unterzeichnet.
In ihr wurde vereinbart, bis 2010 eine europaweite, flächendeckende, einheitliche Studiengangstruktur mit konsekutiven Studiengängen und gestuften Bachelor- und Masterabschlüssen an allen Hochschulen einzuführen.

Durch diesen Umbau sollte das wenig flexible nationale Hochschulsystem überwunden und die Mobilität von Studierenden und Absolventinnen und Absolventen in Europa erhöht werden.

Die inzwischen 46 Unterzeichnerstaaten der Bologna-Erklärung waren aufgefordert bürokratische Hürden abzubauen und die Studienleistungen, in Studiengängen vergleichbarer Struktur, auf der Basis einheitlicher Kriterien gegenseitig anzuerkennen. Damit sollten mehr junge Menschen für ein Studium gewonnen, der Austausch von Studierenden verstärkt und die Zahl der Gastaufenthalte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Ausland erhöht werden.

Um einerseits die Profilierung von Hochschulen und Studiengängen und andererseits die Qualitätssicherung und -entwicklung zu gewährleisten, sollten Studiengänge von unabhängigen Agenturen akkreditiert und in zeitlichen Abständen reakkreditiert werden.
Im Rahmen dieser Zielsetzungen hat ver.di den Bolognaprozess unterstützt.

Diese ist allerdings u.a. auch immer mit den Erwartungen
– einer größeren horizontalen wie vertikalen Durchlässigkeit des Hochschul- und damit des gesamten Bildungssystems,
– einer besseren Vereinbarkeit des Studiums mit anderen Teilen individueller Lebensplanung
(lebenslangem Lernen),
– einer Erhöhung der Bildungsbeteiligungsquote im tertiären Bildungsbereich, einer Senkung der Studienabbrecherquote,
– eines stärkeren Anreizes zur Kooperation von Hochschulen auch unterschiedlichen Typs,
– eines Anstoßes auch zur dringend erforderlichen inneren Reform vieler Fächer und Studiengänge an den Hochschulen,
– einer besseren Integration der Anforderungen der Arbeitswelt in die Hochschul(aus)bildung verknüpft worden.

Wie viele andere Akteure muss ver.di in der Zwischenbilanz nach 10 Jahren feststellen, dass die eingeleiteten Reformen bisher nur in Andeutungen die erwünschten Ergebnisse erbracht haben und gleichzeitig viele unerwünschte und unerwartete „Nebenwirkungen“ aufgetreten sind.

Einer Forderung nach völliger Beendigung bzw. Umkehrung der unter dem Namen „Bologna-Prozess“ subsumierten Reformen schließt sich ver.di, trotz einer in der Gesamtschau unbefriedigenden Zwischenbilanz, jedoch nicht an.
Ein Zurück kann es nicht geben. Stattdessen ist es nach wie vor notwendig, die ursprünglichen Ziele weiter zu verfolgen. Insbesondere ist die Stellung der Lehre innerhalb der Hochschulen zu stärken und die inhaltliche Studienreform weiter zu verfolgen.

ver.di fordert verbindliche Absprachen, um eine verbesserte Studierbarkeit, Durchlässigkeit, Flexibilität und Mobilität zu erreichen.
Viele Fehlentwicklungen sind „hausgemacht“: Die Umsetzung der Ziele der Bologna- und ihrer Folgekonferenzen wird durch stark reglementierte Vorgaben der Politik zu erreichen versucht.

Vorhandene und gewünschte, weil sinnvolle, Spielräume werden durch
„Selbstdisziplin“ nicht genutzt, wie am Beispiel der Dauer der gestuften Studiengänge zu sehen ist. Von der Möglichkeit, einen BA-Studiengang abhängig vom Fach und Profil mit 6 bis 8 Semester zu entwickeln, ist so gut wie kein Gebrauch gemacht worden; Gleiches gilt für MA-Studiengänge, deren Dauer 2-4 Semester betragen kann.

Auch die Umsetzung der Qualitätssicherung durch unabhängige Akkreditierungsagenturen ist zu einem aufwändigen und teuren Unternehmen geworden.
Neben den durch die Politik geschaffenen Problemen haben auch die Hochschulen und Universitäten selbst eine Reihe von Fehlentwicklungen zu verantworten und können deshalb auch nur dort im positiven Sinne geändert werden.

Im Folgenden werden wir uns auf einige wenige, aus gewerkschaftlicher Sicht besonders relevante Aspekte konzentrieren.
Für Studierende hat Bologna einige reizvolle, gut durchdachte Bachelor- und Masterstudiengänge mit einer neuen Sicht auf die Gewichtung von Faktenwissen und Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten gebracht – leider aber in zu wenigen Einzelfällen.

Das Gesamtbild wird bestimmt von Überfrachtung, Verdichtung, Prüfungsdruck, Selektion. Die Bologna-Ziele – die Herausbildung von Fach- und Sozialkompetenz in Verbindung mit kritischem Denken – wird damit nicht erreicht.

Konkrete Mängel sind beispielsweise:
– Kriterium Durchlässigkeit: Flexibilisierungen beim Hochschulzugang beschränken sich bisher auf Verwaltungsakte. Die konkrete Umsetzung ist wenig geregelt und im Wesentlichen abhängig vom Wohlwollen der aufnehmenden Hochschule. Der Übergang vom Bachelor- zum Masterstudium ist durch ein hohes Maß an Selektion geprägt.

Ob die Studienreform in den bisher praktizierten Formen an der unausgewogenen sozialen Zusammensetzung der Studierendenschaft etwas geändert hat, ist bisher nicht belegt. Es erscheint aus Sicht von ver.di höchst zweifelhaft.

– Kriterium Mobilität: Ein Hochschulwechsel innerhalb Deutschlands während eines Bachelorstudiums ist schwerer, wenn nicht sogar unmöglich geworden. Das Ziel Anerkennung und Vergleichbarkeit von Leistungen wurde weit verfehlt. Die erhoffte internationale Mobilität der Studierenden insgesamt ist nicht gestiegen.

Ermöglicht wird Mobilität im Grunde nur durch im Studienprogramm exakt vorgeschriebene Auslandsaufenthalte. In den anderen Fällen wird die Eigeninitiative von Studierenden ausgebremst durch hohe bürokratische Hürden bei der Anerkennung von Leistungen, den allgegenwärtigen Zeitdruck und mangelnde finanzielle Unterstützung.

– Kriterium Flexibilität: In den Köpfen der Gestalter der Studienreform scheint es nur die Vollzeit-Studierenden zu geben, die sich mit voller Kraft und Konzentration ausschließlich dem Studium widmen und dabei entweder durch die Familie, meist die Eltern, oder durch einen wohlfeil angebotenen Studienkredit ausreichend alimentiert werden.

Die Realität sieht radikal anders aus: Studierende müssen sich ihren Lebensunterhalt ganz oder überwiegend selbst erarbeiten, Studierende sind selbst Eltern. Reformierte Studiengänge bieten kaum die Flexibilität, die diese Studierendengruppen brauchen. Das Angebot von blended-learning Studiengängen für Berufstätige gegen exorbitante Studiengebühren
ist keine Alternative.

Für die Beschäftigten der Hochschulen hat die Studienreform in der bisherigen Praxis vor allem zu einer enormen Arbeitsverdichtung geführt. Das gilt für alle mit dem Studium und der Lehre befassten:
– Von der Studienzulassung bis hin zum Studienabschluss ist ein hoher Zuwachs an Verwaltungsaufgaben entstanden, der zentral durch die Immatrikulations-/Prüfungsämter wie auch dezentral in den Fachbereichen (Instituten) zu bewältigen ist.

Umfangreiche Zulassungsverfahren, vermehrte Prüfungsabnahmen stehen einer zunehmenden Nachfrage bei Beratung und Betreuung gegenüber.
Der Versuch, diese Überregulierung durch neue Verwaltungssoftware zu bewältigen, führt oft zu einer weiteren Arbeitsintensivierung und birgt zudem sowohl die Gefahr der „Entpersönlichung“ des Verhältnisses zwischen Studierenden und Beschäftigten als auch der (empfundenen) Überwachung.

– Für die Lehrenden steht die Abarbeitung von Modulen mit jeweiliger abschließender Prüfung auf der Tagesordnung. Das Ergebnis ist Überlastung und Frustration. Beratung und Betreuung sind kaum mehr möglich. Für den sogenannten Mittelbau gerät die eigene Qualifikation ins Hintertreffen. Als Nebeneffekt hat sich das Ansehen der Lehre gegenüber der Forschung verschlechtert – Lehre ist die Tretmühle, Forschung ist Kreativität.

Auf die Notwendigkeit einer objektiven, sachgerechten und effizienten Qualitätssicherung als Alternative zum früheren ministeriellen Genehmigungsverfahren wurde bisher keine befriedigende Antwort gefunden. ver.di setzt sich in den Hochschulen vor Ort für eine beteiligungsorientierte Qualitätsentwicklung ein, die das spezielle Wissen von Beschäftigten und von Studierenden um Arbeitsprozesse und Lernbedingungen mit ins Zentrum stellt.

Unsere Zwischenbilanz und Ausblick lautet daher:
Fortsetzung des Bolognaprozesses – ja, aber Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ziele.
Dazu ist es zwingend notwendig, bei der Einführung der gestuften Studiengänge endlich auch die inhaltliche und didaktische Seite der Studienreform in Angriff zu nehmen.

Der Wechsel vom Lehren zum Lernen durch aktivierende Lehr- und Lernformen, die Vermittlung
von Schlüsselqualifikationen und Methodenkompetenzen kann nur durch Abkehr von starren Curricula und durch Praxisbezug erreicht werden.
Beibehalten des Blicks auf den gesellschaftlichen Auftrag von Bildung.

Das bedeutet u.a.Integration gesellschaftlicher, sozialer, ökologischer und ökonomischer sowie genderbezogener Aspekte in die Studieninhalte.
Umsetzung der Reformen unter Einbeziehung aller Mitglieder – also auch der Studierenden und Beschäftigten.