Vom Mauerfall bis zur Deutschen Einheit: „Erstaunlich wenige Fehler“

Neubrandenburger Oberbürgermeister Krüger erinnert sich an die Zeit des Umbruchs

Nach dem Fall der Mauer bis zur Deutschen Einheit sind nach Ansicht des Neubrandenburger Oberbürgermeisters Paul Krüger „erstaunlich wenige Fehler“ gemacht worden. „Damals wurde ein unglaubliches Tempo an den Tag gelegt. Neben der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und dem Einigungsvertrag – einschließlich der dazu notwendigen internationalen Weichenstellungen – musste das Leben in der ‚Noch-DDR‘ weitergehen, ein gigantischer Strukturwandel eingeleitet werden, der Aufbau demokratischer Strukturen auf kommunaler und Länderebene erfolgen und gleichzeitig mit der Aufarbeitung und Beseitigung von Altlasten, nicht nur im Umweltbereich sondern auch bei der Staatssicherheit, begonnen werden. Bei diesem enormen Programm entstand enorm viel Neues, welches seine Auswirkungen nicht nur in den neuen Bundesländern entfaltete“, sagte Krüger in einem Interview mit der am Sonntag erscheinenden katholischen „Neuen KirchenZeitung“.

Zu diesem Umbruchsprozess habe es seinen Worten nach keine Alternative gegeben. Dennoch hätte im Rückblick im Prozess der Wiedervereinigung einiges anders gemacht werden können. „Aus heutiger Sicht hätte noch intensiver und konsequenter an der Beseitigung alter politischer Strukturen des SED-Regimes gearbeitet werden müssen. Ebenso wäre eine schnellere und bessere Sorge um die Opfer des alten Systems geboten gewesen. Im Prozess der Umgestaltung hätte noch stärker auf die Kompetenz, das Wissen und die Erfahrungen der Ostdeutschen gesetzt werden müssen“, sagte der Oberbürgermeister.

Paul Krüger war Mitglied der letzten DDR-Volkskammer. Von 1993 bis 1994 war er Bundesminister für Forschung und Technologie. 2001 wurde Krüger zum Oberbürgermeister der Stadt Neubrandenburg gewählt, damit schied er aus dem Bundestag aus. Seit 2003 ist er stellvertretender CDU-Landesvorsitzender. Paul Krüger ist katholisch, verheiratet und hat zwei Kinder.

Interview mit dem Neubrandenburger Oberbürgermeister Dr. Paul Krüger

Neubrandenburgs OB Dr. Paul KrügerBis 1989 war die deutsche Einheit eine Illusion. Aber vor zwanzig Jahren ging ein nationaler Traum der Deutschen in Erfüllung: Der Traum von der Einheit in einem demokratischen deutschen Staat. Zu den Gestaltern gehörte der Mecklenburger CDU-Politiker Dr. Paul Krüger. Der heutige Oberbürgermeister von Neubrandenburg blickt zurück auf einen beispiellosen Umbruch, der heute noch nicht abgeschlossen ist.

Das Datum 20 Jahre Mauerfall hat im vergangenen Jahr viele Erinnerungen geweckt. Ist für Sie „20 Jahre Deutsche Einheit“ ähnlich bewegend?

Krüger: Die politische Wende und der Mauerfall waren für viele Menschen, wie auch für mich, sehr bewegende Ereignisse, die natürlich durch den Prozess der Wiedervereinigung emotional kaum wiedererreicht werden konnten. Mich persönlich hat in den Folgejahren insbesondere bewegt, den Prozess der Wiedervereinigung gemeinsam mit vielen Mitstreitern und dabei auch Politikern, die ich bis dato nur aus den Medien kannte, mitgestalten zu können. Dabei ist natürlich die Emotionalität des Umbruchs und des Neubeginns einer gewissen Nüchternheit des mittlerweile eingetretenen innerdeutschen Alltagsgeschehens gewichen.

Wie werden Sie persönlich dieses Datum feiern?

Krüger: Gemeinsam mit vielen Bürgern unserer Stadt und unserer Partnerstädte werden wir diesen Tag unter anderem im Rahmen eines traditionellen Festkonzerts mit Festrede – Rückblick auf 20 Jahre Wiedervereinigung – und Nationalhymne in unserer Konzertkirche feiern.

Sie selbst gehörten als Mitglied der frei gewählten Volkskammer und parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion zu den „Vätern“ der Einheit. Erinnern Sie sich an die Kontroversen, die es um den Modus der Wiedervereinigung gab?

Krüger: Natürlich gab es hierzu Kontroversen sowohl innerhalb der Fraktion und der Partei als auch zwischen den Parteien der Volkskammer. Die wesentliche Entscheidung für den Beitritt nach Artikel 23, alternativ zu Artikel 146, – wobei ein neues Grundgesetz entstanden wäre – , war eigentlich bereits mit der Wahl am 18. März gefallen. So hatte zum Beispiel das „Bündnis 90“, das ja noch im Wahlkampf plakatiert hatte „Kein Anschluss unter dieser Nummer – 23“ nur 2,9 Prozent der Wählerstimmen bekommen, während die CDU, die sich für eine schnelle Wiedervereinigung ausgesprochen hatte, klar mit 40,8 Prozent eine große Zustimmung erhielt. Zudem ging die „Abstimmung mit den Füßen“  trotz vieler politischer Entscheidungen, die auf eine baldige Vereinigung abzielten, unvermindert weiter. Somit war ein schnelles Handeln im Sinn des Artikels 23 Grundgesetz unabdingbar.

Noch heute hört man die Kritik, die Wiedervereinigung sei in Wirklichkeit ein Anschluss der DDR an die Bundesrepublik gewesen. Etwas Neues sei nicht entstanden, hätte aber entstehen können. Ist da was dran?

Krüger: In der Tat hätte eine „neue Bundesrepublik“ über ein neues Grundgesetz entstehen können. Insbesondere Bürger und Abgeordnete, die mit der Entwicklung der „alten Bundesrepublik“ Probleme hatten – etwa mit der konkreten Ausgestaltung der sozialen Marktwirtschaft – machten sich dafür stark. Offensichtlich war dafür aber trotz manch berechtigter Kritik am konkreten politischen System der Bundesrepublik weder eine Mehrheit in der Bevölkerung noch in den Parlamenten zu finden.

Zwischen der Volkskammerwahl im März 1990 und der Einheit lagen noch nicht einmal sieben Monate. Ist das nicht viel zu schnell gegangen?

Krüger: In der Tat wurde damals ein unglaubliches Tempo an den Tag gelegt. Neben der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und dem Einigungsvertrag – einschließlich der dazu notwendigen internationalen Weichenstellungen – musste das Leben in der „Noch-DDR“ weitergehen, ein gigantischer Strukturwandel eingeleitet werden, der Aufbau demokratischer Strukturen auf kommunaler- und Länderebene erfolgen und gleichzeitig mit der Aufarbeitung und Beseitigung von Altlasten, nicht nur im Umweltbereich sondern auch bei der Staatssicherheit, begonnen werden. Bei diesem enormen Programm entstand enorm viel Neues, welches seine Auswirkungen nicht nur in den neuen Bundesländern entfaltete. Während dieses Umbruchprozesses, zu dem es keine Alternative gab, wurden, wie ich meine, erstaunlich wenige Fehler gemacht.

Was im Prozess der Wiedervereinigung würden Sie aus heutiger Sicht anders machen?

Krüger: Aus heutiger Sicht hätte noch intensiver und konsequenter an der Beseitigung alter politischer Strukturen des SED-Regimes gearbeitet werden müssen. Ebenso wäre eine schnellere und bessere Sorge um die Opfer des alten Systems geboten gewesen. Im Prozess der Umgestaltung hätte noch stärker auf die Kompetenz, das Wissen und die Erfahrungen der Ostdeutschen gesetzt werden müssen. Dagegen sprachen zum Teil objektive und subjektive Realitäten, wie der hohe Zeit- und Handlungsdruck, die geringen Erfahrungen, aber auch die nicht selten mangelnde Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

Was halten Sie von der These: Politisch ist die Wiedervereinigung vollzogen, wirtschaftlich aber noch lange nicht?

Krüger: Diese These ist in gewisser Weise nachvollziehbar. Während sich das politische System in Ost und West weitestgehend angeglichen hat, bestehen immer noch große Defizite bei der Wirtschaftskraft. Trotz enormer Entwicklungen, insbesondere beim Infrastrukturausbau und zum Teil guten Wachstumsraten, wird der Aufholprozess noch längere Zeit in Anspruch nehmen.

Was bremst den wirtschaftlichen Aufholprozess des Ostens?

Krüger: Zunächst ist zu beachten, dass die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Wirtschaft wesentlich schlechter war, als ursprünglich eingeschätzt. Hinzu kam das unerwartet schnelle Wegbrechen der Ostmärkte. Der letztlich daraus resultierende gigantische Strukturwandel erforderte nicht nur enorme Investitionen, sondern von vielen Menschen eine völlige berufliche Neuorientierung. Hinzu kam und kommt die enorme Abwanderung von Leistungsträgern in den Westteil Deutschlands. Derzeit stellt sich die wirtschaftliche Entwicklung sehr differenziert dar. Während im Tourismusbereich oder in der Landwirtschaft der Strukturwandel längst vollzogen scheint, gibt es zum Beispiel in der Werftindustrie nach wie vor enorme Probleme. Auch ist der Aufbau einer Innovationsinfrastruktur vor dem Hintergrund fehlender Konzerne und Großunternehmen mit vielen Schwierigkeiten verbunden und entwickelt sich erst allmählich. Vieles lässt sich nicht übers Knie brechen und braucht eben seine Zeit.

Wo liegen 20 Jahre nach der Wiedervereinigung die wirtschaftlichen Chancen einer Stadt wie Neubrandenburg?

Krüger: Neubrandenburg verzeichnet seit Jahren als Oberzentrum unserer Region eine gute wirtschaftliche Entwicklung, gemessen am  Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Diesbezüglich nimmt Neubrandenburg in den neuen Bundesländern von allen Kreisen und kreisfreien Städten Platz zwei ein und liegt damit deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Mit der größten Arbeitsplatzdichte in Mecklenburg- Vorpommern werden hier viele Arbeitsplätze für die gesamte Region bereit gestellt. Neben Handel, Bildung und Dienstleistungen besteht vor allem das Ziel, die Wertschöpfung in den traditionellen Branchen wie Maschinenbau, Fahrzeugzuliefer-, Baustoff- und Lebensmittelindustrie weiter zu erhöhen. Neue Zweige wie Telekommunikation und Geoinformatik verzeichnen eine gute Entwicklung. Es wird auch hier darauf ankommen, in allen Bereichen verstärkt auf Bildung, Forschung und Entwicklung und Innovation zu setzen.

Neubrandenburg galt zur DDR-Zeit als tief rot. Wie kommt es, dass so viele Katholiken aus der Stadt wichtige Positionen in der Politik übernommen haben?

Krüger: An der politischen Wende waren auch sehr viele katholische Christen beteiligt. Ende 1989 traten viele, wie auch ich, in politische Parteien ein und übernahmen politische Verantwortung auf allen politischen Ebenen. Neben diesen neuen Politikern, die sich überwiegend auf kommunaler Ebene betätigten, gelang es auch Neubrandenburger Christen, sowohl im Landtag wie auch in der Volkskammer und später im Bundestag, unmittelbar an der Gestaltung der Deutschen Einheit mitzuwirken. Nicht zuletzt war das auch durch die aktive und unmittelbare Begleitung durch Verantwortliche und Würdenträger der Kirche möglich.

Wende und Wiedervereinigung haben auch den Christen neue Freiheit gegeben. Wie wünschen Sie sich die Rolle der Kirchen in Ihrer Stadt?

Krüger: Es scheint, dass das politische Interesse und in der Folge die aktive Einbringung und Mitgestaltung durch die Kirchen geringer geworden ist. Hier könnte neben der derzeit eher kritischen Begleitung der kommunalen Entwicklung, vor allem das unmittelbare aktive Einbringen von Christen in politische Gremien und Parteien, neue wichtige Impulse gegen die wachsende Politikverdrossenheit und für eine von christlicher Ethik getragene Politik auslösen.

Ihr Geburtstagswunsch für das wiedervereinigte Deutschland?

Krüger: Dass möglichst viele Menschen das großartige Wunder der deutschen Wiedervereinigung nicht nur als Gnade oder gar als Selbstverständlichkeit betrachten, sondern als Chance, in freiheitlich demokratischen Strukturen an der Gestaltung unseres gemeinsamen Vaterlandes aktiv mitzuwirken.

Interview: Neue KirchenZeitung