Sprache auf der Anklagebank

Warum Juristen, Angeklagte und Zeugen sich oft nicht verstehen – ein Plädoyer

Sie sprechen die gleiche Sprache und verstehen sich trotzdem nicht. Auf der einen Seite Richter, Staatsanwälte und Verteidiger, auf der anderen Seite Angeklagte und Zeugen. Letztere haben häufig massive Probleme, dem Juristen-Deutsch in den Verhandlungen zu folgen. Zu dieser Erkenntnis kommt Oberarzt Dr. Ulrich Hammer vom Rostocker Institut für Rechtsmedizin der Universität Rostock. Er ist seit Jahren als Sachverständiger bei Gericht gefragt, vertritt Obduktionsbefunde oder Gutachten bei Straftaten, wenn es beispielsweise um die Schuldfähigkeit unter Einwirkung von Drogen oder Alkohol geht. In den Landgerichtsbezirken von Rostock und Schwerin sitzt Hammer jährlich etwa 50 Mal bei Gericht. Er weiß also, wovon er spricht.

Hammer beklagt, dass es in den Verhandlungen oft zu Kommunikationsbarrieren kommt, die mit der räumlichen Distanz von etwa vier Metern zwischen Richter und Angeklagten nichts zu tun haben. „Durch kanzleisprachliche Ausdrücke, also einer sehr eigenen, gehobenen, von der täglichen Gewohnheit entfernten Fachsprache wird aneinander vorbeigeredet“, beobachtet Hammer immer wieder. „Viele Menschen haben in ihrem Leben andere Schwerpunkte gesetzt, verfügen nicht über Kritik- und Diskussionserfahrung, sind es nicht gewohnt, punktgenau gefragt zu werden und vor einem Publikum zu antworten. Dem muss das Gericht besser gerecht werden“, fordert der Rostocker Rechtsmediziner. Aus seiner Erfahrung weiß er, dass Verfahren vor Gericht für die Beteiligten oft eine hochemotionale Angelegenheit sind, „was ebenfalls nicht ausreichend Beachtung findet“. Zudem haben Angeklagte oder Zeugen in manchen Fällen Gesundheits-, Alkohol- oder Drogenprobleme. Auch diese Umstände müssen vom Gericht stärker berücksichtigt werden, fordert Hammer. „Stattdessen wird oft ein Fragedruck aufgebaut, der bei Betroffenen eine Ausnahmesituation auslöst, für die sie nicht trainiert sind.“ Darunter leiden letztlich alle Beteiligten und oft auch die Verfahren selbst.

Der Rostocker Rechtsmediziner sieht die Ursachen dafür unter anderem in einer unzureichenden Ausbildung der Juristen. „Es muss für diesen Beruf Psychologie, Rhetorik, Gesprächsführung, Vernehmungslehre und Kommunikationsfähigkeit schon während des Studiums vermittelt werden“, sagt Hammer. Experten fordern das übrigens bereits seit vielen Jahrzehnten.

Mit seiner Forderung läuft der Rostocker Rechtsmediziner beim Präsidenten des Landgerichtes Stralsund, Dr. Kai Jaspersen, offene Türen ein. „Zwischen Juristen und dem Normalbürger gibt es ein Kommunikationsproblem“, räumt der Landgerichtspräsident  unumwunden ein. Jaspersen sieht das Problem in der Struktur des syllogistischen juristischen Denkens, bei dem Juristen vom Allgemeinen auf das Besondere schließen, begründet. „Es gibt etwas zu tun für den Berufsstand“, geht der Präsident des Landgerichtes mit sich selbst und seiner Berufsgruppe ins Gericht. „Recht ist etwas Virtuelles, es lebt von der Kommunikation. Dem muss man große Aufmerksamkeit schenken“, fordert der erfahrene Jurist. Dieses Phänomen betrifft auch Ärzte, die sich beim Patienten verständlich machen und so Vertrauen schaffen müssen. Sprache, Psychologie und Recht, wie können diese drei Säulen Eingang in das Jurastudium finden?

„Das Problem ist erkannt“, sagt der Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Rostock, Prof. Dr. Jörg Benedict. Seit dem Wintersemester 2010/11 wird in Rostock der achtsemestrige Bachelor-Studiengang „Wirtschaft, Gesellschaft, Recht – Good Governance“ angeboten. „Mit diesem Studiengang gehen wir neue Wege“, so Benedict. „Recht ist immer auch eine Frage der Kommunikation. Der Bürger muss verstehen können, worin das Rechtsproblem besteht und was es für die Beteiligten bedeutet.“  Der Dekan ist überzeugt: „Wir bilden jetzt in Rostock einen neuen Typus von Juristen aus, die mit diesen Sachverhalten besser umgehen können“. Das hält der Rostocker Sprach- und Kommunikationswissenschaftler, Prof. Dr. Wolfgang Sucharowski, für dringend geboten. „Es muss analysiert werden, warum im Gerichtssaal kaum jemand den Anderen richtig verstehen kann.“ Der Professor sieht den einzigen Ausweg in einer geänderten Juristenausbildung, wie sie in Rostock jetzt erfolgreich praktiziert wird. „Jura-Studenten müssen rechtzeitig mit ihrer Arbeitswelt vertraut gemacht werden“, meint der Wissenschaftler. Dazu gehört für ihn auf jeden Fall, dass während des Jurastudiums auch Kommunikationswissenschaft und Psychologie gelehrt werden.

Quelle: Universität Rostock