Kalenderblatt 1945: Die Auseinandersetzungen zwischen Stralsunds Oberbürgermeister Otto Kortüm und der russischen Militäradministration

„Man erblickte darin etwas wie Ehrlichkeit …“

Noch vor den Kampagnen der KPD und auch noch vor den ersten Verhaftungen von Sozialdemokraten durch die russische Militäradministration in Stralsund gab es erhebliche Auseinandersetzungen zwischen dem seit 1.Mai 1945 amtierenden Stralsunder Oberbürgermeister Otto Kortüm (SPD) und der örtlichen SMA.

So verzögerten die Russen beispielsweise die Flüchtlingsabreisen aus Stralsund, um die Flüchtlinge aus den Ostgebieten besser „kontrollieren“ (ausrauben) zu können. Wie hart, aber auch wie achtungsvoll zu dieser Problematik zwischen Oberbürgermeister und SMA (sowjetische Militäradministration) verhandelt wurde, gibt ein Bericht Otto Kortüms an, als eine Flüchtlingsabreise Anfang Mai 1945 nicht erfolgen konnte:

Stralsund „ … Nachmittags werde ich zur Kommandantur beordert, außerhalb der sonst regelmäßigen `Tagesbericht-Beordung`. Anlaß ist der Umdruck (Gemeint ist die angeordnete Zuweisung von Flüchtlingen an verschiedenen Orten des damaligen Landkreises Franzburg-Barth. – Anm.d.V.), der aber nicht, wie von mir befohlen, sondern von Betreuern der Flüchtlingsstelle am Alten Markt unterschrieben war.

Es gab eine harte Auseinandersetzung zwischen mir und dem Kommandanten (Major Tscherkassow), die von der einen Seite schließlich damit endete: `Ich lasse Dich erschiessen !`. Ich entgegnete darauf: `Du kannst mich gar nicht erschießen lassen !`, was auch der Wahrheit entsprach. Er beauftragte darauf den Adjutanten, der neben ihm und der Dolmetscherin saß, den Wachoffizier heraufzuholen. Soviel Russisch verstand ich, ich wusste aber auch, dass er mich einsperren lassen konnte.

Nur zu oft hatte ich festgestellt, dass ein Mitarbeiter verspätet wiederkam, meist erst durch die Frauen morgens vom Ausbleiben des Mannes unterrichtet. Ich stand noch einmal auf, schlug wie vorher auf den Tisch und sagte: `Du hast mich heute morgen schon erschießen lassen wollen, und zweimal am selben Tag, das geht selbst in Russland nicht.` Nach der Übersetzung zunächst Schweigen, dann aber ein erschütterndes Lachen des Kommandanten gerade in dem Zeitpunkt, als der Adjutant mit dem Wachoffizier wieder eintrat.

Darauf einige Worte an den Adjutanten, der dann mit einer größeren Zahl von Kommandanturoffizieren zurückkehrte. Der Kommandant forderte mich auf, das Gesagte zu wiederholen. Ich weigerte mich. Darauf besorgte er es. Was nun folgte, war ein allgemeines Gelächter. Aber jetzt kam der kritische Punkt, der Einfühlungsvermögen voraussetzte. Im dienstlichen Gespräch konnte man hart gegen hart setzen. Das nahm man nicht übel. Im Gegenteil, man erblickte darin etwas wie Ehrlichkeit.

Diese Einstellung habe ich immer wieder erlebt und am russischen Offizier sowie auch höheren Verwaltungsbeamten bewundert. Der Major stand auf, griff hinter sich, holte zwei Sektgläser und eine Flasche hervor und goss Wodka ein. Es folgte der kurze Trinkspruch etwa: `Du bist etwas frech, aber sonst ein guter Kerl !`

Mit einer freundlichen Erwiderung meinerseits sowie nach der Übersetzung `der Trunk bis auf den Grund` und ein Händeklatschen der dabeistehenden Offiziere … Sein Ton war zwar immer etwas rau, entsprach aber keineswegs seinem Verhalten. Denn immerhin habe ich ein Dutzend Erschießungsandrohungen überlebt …“. /Vgl. Eggert: „Das Ende des Krieges und die Besatzungszeit in Stralsund ..“ / Otto Kortüm „Tagesberichte“).

Doch nicht immer verliefen die Meinungsverschiedenheiten zwischen Oberbürgermeister Kortüm und den Vertretern der SMA in Stralsund so glimpflich ab. Ein Streit zwischen Kortüm und Oberst Iwanow ebenfalls Anfang Mai 1945 hatte da schon erheblich negativere Folgen für Stralsunds OB.

Es war zwischen dem Oberst und Kortüm zu harten Auseinandersetzungen gekommen, weil man ihm die Stilllegung des Wasserwerkes, des Elektrizitätswerkes, die Brände am Hafen  sowie die Vernachlässigung des Brückenbaus nach Rügen vorgeworfen hatte. Kortüm wies auf die Schuld der Roten Armee und der plündernden Ausländer hin. Bei der Feuerwehr hatten die Russen Spritzen, Reifen und Motoren ausgebaut, so dass sie beim Feuer am 5.Mai (1945) nicht einsatzbereit waren.

Es erfolgte eine kurze Verhaftung Kortüms. Durch das Eingreifen des Majors Rumjanzew wurde er entlassen (das hieß, auch als OB abgesetzt – Anm.d.V.) und konnte einmal, wie er schrieb, ausschlafen. Aber bald (nach 36 Stunden – Anm.d.V.) wurde er auf Veranlassung des Majors Rumjanzew wiedergeholt.

Nicht zuletzt ein Protest der Stralsunder Sozialdemokraten um Max Fank und Willi Schuldt hatte den Major veranlasst, Otto Kortüm erneut als Oberbürgermeister einzusetzen. Es zeigte sich aber, dass der politische Spielraum der Sozialdemokraten auf kommunaler Ebene äußerst begrenzt war, zumal die ständigen Eingriffe der SMA in die kommunalen Prozesse, den Aufbau einer städtischen Verwaltung doch sehr behinderten.

Otto Kortüm wurde – auch wegen seines Widerstandes gegen eine Bodenreform nach KPD-Konzeption und seine Vorbehalte gegenüber einer engen Zusammenarbeit mit den Stralsunder KPD-Vertretern – nach einer Verleumdungskampagne am 26.August 1945 von der SMA als Oberbürgermeister in Stralsund endgültig abgesetzt. Danach unterhielt Kortüm Kontakte zum SPD-Ostbüro und musste vor dem Hintergrund einer drohenden Verhaftung durch die russische Militäradministration nach Westdeutschland 1949 fliehen.

M.Michels

F.: Blick auf Stralsund. (Archiv)