Die unordnende Hand der Natur

Praktikum im Buchen-Urwald Müritz, dem neuen Weltnaturerbe

Die ersten vier Kilometer auf dem Rad sind für Wolf Stein an jedem Morgen die härtesten. Sie führen über eine holprige Buckelpiste, wie sie der Globetrotter sonst nur aus den tiefen Wäldern Alaskas oder aus dem australischen Outback kennt. Anschließend muss der „Praktikant für die Umwelt“ weitere 16 Kilometer zurücklegen, um von der Unterkunft im Forsthaus Serrahn, mitten in seit über 200 Jahren unberührten Buchenwäldern gelegen, in sein Büro nach Hohenzieritz zu gelangen. Umso glücklicher ist Stein, wenn statt der Büroarbeit im Nationalparkamt Müritz Expeditionen anstehen. Erst recht, seit der Nationalpark von der UNESCO kürzlich zum Welterbe erklärt wurde. Schließlich hatte sich der 33-Jährige auf einen der insgesamt 50 Praktikumsplätze beworben, die die Commerzbank und EUROPARC Deutschland regelmäßig ausschreiben, um die Natur zu erleben und Menschen die Schätze der deutschen Nationalparks nahe zu bringen.

Der Wechsel zwischen Wildnis und Zivilisation ist für Stein, im Gegensatz zu vielen seiner sehr viel jüngeren Mitpraktikanten, nichts Neues. 2004 kündigte der Magdeburger seinen Radio-Job, um ins Traumland Australien aufzubrechen. Spätestens seit dieser Zeit im Outback zieht es ihn immer wieder raus aus dem bequemen Stadtleben. Seine extremste Erfahrung war dabei die Arbeit als Baumpflanzer in Kanada. Schlafen, pflanzen, essen, schlafen… und wieder pflanzen – allein in schweren Spezialstiefeln über gerodete Flächen und Hänge stapfen, um die geholzten Wälder wieder aufzuforsten. Wer diesen Knochenjob durchhält, ohne dem ständigen Wunsch, einfach aufzuhören, nachzugeben, verdient sich bei Kanadiern höchsten Respekt. Und nimmt die Erkenntnis mit, dass die „ordnende Hand des Menschen“, die Forstwirte so gern beschwören, Lücken hinterlässt, die nur mit größter Anstrengung wieder zu schließen sind.

Buchenwälder im Müritz-Nationalpark sind jetzt Weltnaturerbe

Wolf Stein hat seine extremen Erfahrungen als Baumpflanzer in einem Buch mit dem Titel „Ich sehe den Wald vor Bäumen nicht“ aufgeschrieben. Im Müritz-Nationalpark erlebt er nun täglich einen Buchenwald in seiner Urform, wie es ihn weltweit nur noch höchst selten gibt. Seit über 200 Jahren ist hier alles so gut wie unberührt. Was zunächst den traditionellen Jagdfreuden der Mecklenburger geschuldet war, ist heute vom Willen bestimmt, die Natur als „unordnende Hand“ walten zu lasten. Lange hatte das Gebiet auf der Anwartschaftsliste zum Weltnaturerbe gestanden, alle, die es lieben und pflegen, hatten die Daumen gedrückt. Jetzt, im Juni, folgte tatsächlich die Anerkennung – was zusätzlichen Schutz garantiert, denn mit den zu erwartenden höheren finanziellen Zuwendungen kann der Nationalpark zudem besser bewahrt und gleichzeitig für Kinder, Jugendliche und Erwachsene noch erlebbarer gemacht werden. Man muss nur Geduld haben, will man heutzutage miterleben, wie die Natur sich erholt vom Eingriff des Menschen.

Für Stein, der noch heute begeistert von Alaska und Australien schwärmt, sind diese Wälder ein Grund, sich in Zukunft in Deutschland für den Umweltschutz und ein ungestörtes Naturerleben einzusetzen. „Ich musste wohl erst mit einem 25 Kilogramm schweren Gürtel, gespickt mit Jungbäumen, durch das kanadische Unterholz kriechen, um hier in Serrahn herauszufinden, welche Naturschönheiten auch die eigene Heimat bietet“, so der im normalen Leben als freier Radioproduzent tätige Stein. Ohne die Erfahrungen in der freien Natur Kanadas und Australiens und seine dortigen Kontakte zu Rangern und Nationalpark-Angestellten hätte der Naturfreund jedenfalls nicht herausgefunden, welche Strukturen in Deutschland erst noch aufgebaut werden müssen.

Vom Junior-Ranger zum Nationalpark-Angestellten  

Sein „Praktikum für die Umwelt“ begann Wolf, um sich auf ein Studium im weiten Bereich „Natur“ vorzubereiten. Als einziger nicht aktueller Student unter den 50 Teilnehmern macht er nun die Erfahrung, welche Arbeit es erfordert, pures Naturerleben in Deutschland für alle Generationen zu ermöglichen und attraktiv zu gestalten. Eines seiner aktuellen Projekte zeigt jedoch, dass etwas getan wird: Die meisten Expeditionen ins Umfeld seiner – übrigens mit Internet ausgestatteten – einfachen, aber bequemen Unterkunft gelten der Aktion „Junior-Ranger“. Hierbei sollen Kinder aus dem Umland, aber auch aus größeren Städten wieder lernen, unberührte Natur zu erleben. Stein schießt dabei laufend Fotos von wild wuchernden Moosen, umgestürzten hunderte Jahre alten Buchen und zuletzt sogar von einer neugierigen Kreuzotter. Mit diesen Aufnahmen soll später auf Prospekten und im Internet geworben werden. „In Zukunft“, so Stein, „sollen noch mehr Kinder und Jugendliche diese rohen, aber unfassbar schönen Wälder mit dem Wunsch verlassen, immer wieder in die Natur zurückzukehren.“

Nur so, wenn Menschen die Natur wieder von jung auf achten und lieben lernen, sei es möglich, unsere Naturschätze in Deutschland zu bewahren. Derzeit fehlt Stein für seinen Traumberuf Naturpark-Ranger jedoch die Perspektive: „Die Gelder müssen überall zusammengestrichen werden. Und da keine neuen Stellen geschaffen werden, ist die Altersstruktur unter den Angestellten der Naturparks nicht gerade optimal“. Umso wichtiger seien daher Projekte wie das „Praktikum für die Umwelt“. Und umso weniger treffen Stein Kritikerstimmen, die hinter dem Engagement von Sponsoren wie der Commerzbank lediglich Imagepflege vermuten. „Ohne Geld lässt sich auch im Umweltschutz nichts bewegen. Wenn nun 50 angehende Naturpark-Schützer drei Monate erleben, welche Schätze wir zu verlieren drohen, ist das im Ergebnis für alle und vor allem für die Umwelt ein Gewinn“, sagt Stein und blickt wieder ins Fernglas, um einen in der Ferne jagenden Fischadler zu beobachten.

Stein genießt diese Momente fernab von Straßen, Häusern und Menschenmassen sichtlich. Schon bald wird er in die Zivilisation zurückkehren und wieder eine Zeit lang als freier Radioproduzent arbeiten. Der nächste Schritt in Richtung Traumjob ist allerdings gemacht. Und dass er dabei trotz schützender Ranger-Kleidung unzählige Mückenstiche, bei der Honigernte sogar einige heftige Bienenattacken erleiden und etliche anstrengende Radtouren hinter sich bringen musste, tut Stein mit einem Lächeln ab. „Wenn ich am Abend mit einem Stück Kuchen zu Rudi und Anni in ihr einsames Waldhäuschen gehe, um mir Geschichten aus über 60 Jahren Leben in der Natur anzuhören, sind solche kleinen Strapazen vergessen.“ Das Paar lebt seit dem Kriegsende dort, wohin sich sonst nur gelegentlich Wanderer verirren, weil es keinen richtigen Weg zu ihrem Häuschen gibt, nur einen überwucherten Trampelpfad. Die beiden Originale sind quasi die einzigen Nachbarn der Forsthaus-Bewohner. Abgesehen von den Tieren. Sie leben ein typisches Einsiedlerleben, tief im Wald. Auch im hohen Alter noch. Es gibt also auch bei uns noch Menschen, die allein mit der Natur glücklich und alt werden können. Und selbst wenn dieser Lebensentwurf sicher die absolute Ausnahme bleiben wird – für Wolf Stein wäre es schon ein Fortschritt, wenn dank gesicherter Nationalpark-Strukturen wieder mehr junge Menschen ursprüngliche Natur erleben wollten – und würden.

von Gunnar Hassel