Nachgefragt bei Erika Becker, Leiterin des Literaturzentrums Neubrandenburg
Seit 1971 gibt es das Literaturzentrum Neubrandenburg, in dem sich auch die Bestände so bekannter Autorinnen und Autoren wie Brigitte Reimann, Hans Fallada und Joachim Wohlgemuth befinden. Inzwischen wurde auch das Archiv des Schriftstellers Uwe Saeger in das Literaturzentrum Neubrandenburg eingegliedert.
Wie verlief die Entwicklung des Literaturzentrums Neubrandenburg jedoch in den letzten Jahren?!
Nachgefragt bei Erika Becker, Leiterin des Literaturzentrums Neubrandenburg
Erika Becker über das schriftstellerische Schaffen von Uwe Saeger, die Entwicklung des Literaturzentrums Neubrandenburg, die Veranstaltungen des Literaturzentrums Neubrandenburg 2018, weitere Herausforderungen für die Einrichtung und das Lese-Interesse der „digitalen Generation“
„Bereichern das kulturelle Leben in der Region und darüber hinaus…“
Frage: Kürzlich wurde das Archiv von Uwe Saeger in das Literaturzentrum übernommen. Wie groß ist der Bestand? Welche Bedeutung hat das Wirken und Schaffen von Uwe Saeger aus Ihrer Sicht?
Erika Becker: Uwe Saeger ist einer der wichtigsten Autoren in Mecklenburg-Vorpommern. Die eher verhaltene mediale Präsenz und die geringen Auflagenzahlen seiner Bücher entsprechen in keiner Weise der literarischen Qualität seiner Texte. Er ist für sein literarisches Schaffen mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Kulturpreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Ihn beschäftigen die Fragen nach Leben und Tod, der Mensch mit seinen Sehnsüchten und Verstrickungen, Liebe, Schuld, Versagen, Scheitern. Er fragt, was die Gesellschaft mit dem Einzelnen macht und was der Einzelne aus welchen Gründen heraus mit sich machen lässt.
Die Dokumente, die Uwe Saeger unserem Archiv übergegeben hat, dokumentieren 50 Jahre seiner schriftstellerischen Arbeit. Die frühesten Texte wurden1966 geschrieben, der letzte ist ein Filmexposé mit dem Titel „Von der Schuld des Glücks“ aus dem Jahr 2016.
Das Archiv Uwe Saegers ergänzt unsere bereits vorhandenen Bestände um die bisher fehlende Literatur eines Autors, der in die DDR hinein geboren wurde und sich in seiner Sicht auf die Gesellschaft, in der Kritik an den Verhältnissen sowie in seiner auf die Psychologie der Individuen ausgerichteten Schreibweise von seinen älteren Kollegen deutlich unterschied.
Uwe Saeger hat früh und illusionslos die realen Verhältnisse hinterfragt und die Beschädigungen des Individuums deutlich gemacht. Und bis heute zeugen seine Werke von erzählerischer Modernität und moralischer Rigorosität und verweisen schonungslos auf existenzielle Probleme menschlichen Seins.
Wir haben das Archiv in zehn Umzugskartons übernommen, insgesamt über 2.000 Einzeldokumente mit circa 30.000 Seiten: Handschriften, Typoskripte, Recherchematerialien, Briefe und Telegramme, Tagebücher, Interviews, Reden, Gutachten, Rezensionen, Förderanträge, Verhandlungen mit Verlagen, mit Fernseh- und Spielfilmproduktionsfirmen, unterschriftsreife Verträge und Absagen, neue Anträge…
Frage: Wie verlief die Entwicklung des Literaturzentrums Neubrandenburg in den letzten Jahren? Wie ist der Zuspruch zu Ihrer Einrichtung?
Erika Becker: Nachdem die 1990er Jahre Zeiten des Aufbaus und vielfältigster literarischer Möglichkeiten waren – wir haben beispielsweise das neu erbaute Brigitte-Reimann-Literaturhaus in Neubrandenburg übernehmen und das Hans-Fallada-Archiv auf dem sanierten Museumsgelände in Carwitz einrichten können – gab es ab 2006 einen massiven Einbruch durch drastische Mittelkürzungen seitens aller öffentlichen Förderer, der zu einer deutlichen Reduzierung von Personal und damit auch zu deutlich weniger kulturellen Angeboten führte.
In den letzten Jahren ist es gelungen, gemeinsam mit der Stadt Neubrandenburg, dem Land Mecklenburg-Vorpommern und dem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte eine Finanzbasis zu schaffen, die wieder den ganzjährigen Betrieb beider Einrichtungen mit zwei festen Teilzeitstellen ermöglicht.
Ein großer Teil der Arbeit wird ehrenamtlich von engagierten Mitgliedern unseres Trägervereins geleistet. Für einzelne Projekte können wir auch immer wieder weitere Förderer gewinnen, so wurde zum Beispiel der Ankauf des Archivs von Uwe Saeger durch die Ostdeutsche Sparkassenstiftung und die Sparkasse Neubrandenburg-Demmin ermöglicht; für unser diesjähriges Veranstaltungsprogramm konnten – neben der Unterstützung durch die oben genannten öffentlichen Förderer – auch eine Spende vom Immobilienfonds Ärztehaus An der Marienkirche in Neubrandenburg, Bundesmittel von der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten und eine Förderung der Stiftung Mecklenburg eingeworben werden.
Ich sehe diese Förderungen auch als ein Zeichen des Vertrauens und der Wertschätzung unserer Arbeit, ebenso wie die Tatsache, dass uns in den letzten Jahren wertvolle Dokumente für unsere Archivbestände übergeben wurden, unter anderem erhielten wir Briefe und Fotos zur Familiengeschichte Hans Falladas von seinen beiden Söhnen und kürzlich Abiturarbeiten Brigitte Reimanns von der Stadt Burg.
Unsere Veranstaltungen sind in der Regel sehr gut besucht, mittlerweile haben wir ein Stammpublikum. Nicht zufrieden sind wir mit den Besucherzahlen für unsere Dauerausstellung zu Brigitte Reimann. Zwar kommen gezielt interessierte Gruppen und Einzelgäste, die Brigitte Reimann kennen, aber es fehlen zum Beispiel die Touristen, die sie erst noch entdecken könnten. Zur Zeit haben wir jedoch keine Möglichkeiten, hier intensiver Öffentlichkeitsarbeit und Besucherwerbung zu betreiben.
Frage: Welchen Stellenwert hat das Literaturzentrum Neubrandenburg inzwischen in der Kultur- und Literatur-Landschaft von M-V aus Ihrer Sicht?
Erika Becker: Das Literaturzentrum Neubrandenburg e.V. betreibt mit dem Brigitte-Reimann-Literaturhaus in Neubrandenburg und dem Hans-Fallada-Archiv in Carwitz zwei Einrichtungen, die mit Veranstaltungen und Ausstellungen das kulturelle Leben in der Region bereichern und darüber hinaus auch bundesweit bzw. international ausstrahlen.
Wir sind Teil des Netzwerkes von Literaturvereinen und -einrichtungen im Land, arbeiten eng mit den anderen Literaturhäusern zusammen, zum Beispiel bei der Organisation von Lesereisen für Autorinnen und Autoren, erarbeiten gemeinsam mit Partnervereinen. wie der Hans-Fallada-Gesellschaft und der Brigitte-Reimann-Gesellschaft, Ausstellungen, die bundesweit gezeigt werden, und organisieren wissenschaftliche Konferenzen mit Referenten aus dem In- und Ausland, wir organisieren Projekte für die kulturelle Kinder- und Jugendbildung, unter anderem gemeinsam mit dem Friedrich-Bödecker-Verband M-V, und kooperieren mit der Fritz-Reuter-Gesellschaft bei Veranstaltungen zur niederdeutschen Literatur.
In unserem Literaturarchiv bewahren wir mit den Beständen zu Hans Fallada, Brigitte Reimann, Uwe Saeger und weiteren Autorinnen und Autoren der Region wichtige Teile des kulturellen Erbes Mecklenburg-Vorpommerns und stellen sie für die kulturelle und wissenschaftliche Nutzung zur Verfügung.
Auf der Grundlage unserer Archivbestände wurden in den letzten zwanzig Jahren wichtige Verlagseditionen realisiert, wie zum Beispiel die Tagebücher, eine Bildbiografie und mehrere Briefeditionen Brigitte Reimanns, die ungekürzte Ausgabe des Romans „Kleiner Mann – was nun?“ und vier Briefausgaben von Hans Fallada; mit wesentlicher Unterstützung durch das Archiv entstanden zwei neue Fallada-Biografien und die Aufarbeitung der Krankengeschichte Falladas; ein umfangreiches wissenschaftliches Handbuch, dessen Erarbeitung von uns über mehrere Jahre unterstützt wurde, steht kurz vor dem Abschluss.
Darüber hinaus unterstützten wir mehrere Filmprojekte über Hans Fallada und Brigitte Reimann; internationale Kontakte gab es zum Beispiel über die Goethe-Institute in Paris und Madrid, durch Übersetzerinnen und Übersetzer und Studierende und Doktoranden, die sich im Ausland mit Themen zu Reimann, Fallada, aber auch zu Sakowski oder zur Bewegung schreibender Arbeiter in der DDR beschäftigten.
Frage: Welche Veranstaltungen stehen 2018 noch auf dem Programm des Literaturzentrums Neubrandenburg?
Erika Becker: Das Jahr 2018 steht für uns ganz im Zeichen Brigitte Reimanns. Wir haben gemeinsam mit mehreren Kooperationspartnern ein ganzjähriges Veranstaltungsprogramm organisiert, zu dessen Höhepunkt am 21. Juli, dem 85. Geburtstag der Schriftstellerin, die Schauspielerin Sandra Maria Fronterréundder Schauspieler David C. Bunners (der übrigens in Neubrandenburg geboren wurde und hier aufgewachsen ist) aus dem gerade neu erschienenen Briefwechsel Brigitte Reimanns mit ihren Geschwistern lesen werden.
Die Herausgabe des Buches mit dem Titel „Post vom schwarzen Schaf“ haben wir mit zahlreichen Briefen und Fotos, die sich im Bestand unseres Archivs befinden, unterstützen können.
Eine weitere szenische Lesung gibt es am 1.September 2018. Sabine Frost und Christine Wachholz stellen bei uns im Literaturhaus anhand von Tonbandprotokollen, Familienbriefen, Filmsequenzen und Erinnerungen von Zeitzeugen die Schauspielerin Simone Frost (1958-2009) vor, die in der Verfilmung des Romans „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann die Titelrolle gespielt hat.
Und schon einen Tag vorher beginnt in Kooperation mit dem Landesverband Filmkommunikation eine Tournee des Films „Erster Verlust“, der nach Motiven der Erzählung „Die Frau am Pranger“ von Brigitte Reimann 1990 als einer der letzten DEFA-Filme entstanden ist. Der Film wird in der originalen 35mm-Technik gezeigt, Tourneestart ist am 31.August 2018 in Güstrow, bis zum November wird der Film unter anderem auch in Rostock, Greifswald, Neubrandenburg, Brüssow und Carwitz zu sehen sein.
Zum Abschluss des Reimann-Jahres gibt es am 25.November 2018 einen weiteren Höhepunkt: Die Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz widmet sich dem Roman „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann mit Lesepassagen und Ausschnitten aus der Oper „Linkerhand“ von Moritz Eggert, die 2009 in einer Inszenierung des Theaters Görlitz Premiere hatte und bisher in unserer Region noch nicht aufgeführt wurde.
Letzte Frage: Kommen auch jüngere Literatur-Interessierte in das Literaturzentrum Neubrandenburg oder hat „die digitale Generation“ keinen Sinn mehr für die gedruckte Literatur?
Erika Becker: Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Kinder auch heute noch gern lesen. Aber zum Lesen braucht es eigentlich nur das Buch und die an Literatur interessierte Person, es ist eine sehr individuelle Angelegenheit.
Ich sehe die Aufgabe der literaturvermittelnden Einrichtungen daher darin, Kindern den Zugang zum Lesen zu eröffnen. Es gibt Kinderzimmer, in denen außer den Schulbüchern kein einziges Buch steht. Hier können wir mit Projektangeboten neugierig machen und literarische Entdeckungen ermöglichen. Kinder sind immer zu erreichen, wenn sie mitmachen und selbst aktiv werden können, wenn sie ihre eigene Phantasie und Kreativität einbringen können.
Wir haben Kooperationsverträge mit zwei Schulen, deren Klassen regelmäßig zu Projekttagen oder Schreibwerkstätten in unser Haus kommen. In diesem Jahr zum Beispiel ist das Märchen „Maja, die Waldfee“, das Brigitte Reimann als Schülerin geschrieben hat, Grundlage einer Schreibwerkstatt und einer Theateraufführung von Kindern gewesen.
Im Übrigen müssen sich die gedruckte Literatur und die digitalen Medien ja nicht gegenseitig ausschließen, man kann beide auch in ein produktives Verhältnis setzen.
Vielen Dank und weiterhin bestes Engagement für das Literaturzentrum Neubrandenburg!
M.Michels