Nachgefragt bei der ambitionierten Boxsportlerin
Endlich lohnt es sich wieder, Frauen-Boxsport in Deutschland zu schauen. Im Amateur-Bereich dank der Schwerinerin Sarah Scheurich und im Profi-Bereich dank Ikram Kerwat.
Frauen und der Kampfsport
Es ist daher schon erstaunlich, dass einige Unverbesserliche glauben, Frauen und Kampfsport – das geht gar nicht.
Dabei haben Frauen längst bewiesen, dass sie hervorragende Fechterinnen, Ringerinnen, Judoka, Taekwondoka, Ju-Jutsuka oder eben Boxerinnen sind. Mitunter sogar mit mehr Eleganz und Können auftretend als mancher männliche Möchte-gern-Groß…
Aber wie meinte schon der Publizist und Physiker Georg Christoph Lichtenberg: „Gesetzt den Fall, wir würden eines Morgens aufwachen und feststellen, dass plötzlich alle Menschen die gleiche Hautfarbe und den gleichen Glauben haben, wir hätten garantiert bis Mittag neue Vorurteile…“
Während Sarah noch auf eine eventuelle Olympia-Teilnahme (Wildcard) in Rio hofft, möchte Ikram den WM-Gürtel im Profi-Bereich – und ihre bisherigen Kämpfe bewiesen: Da ist eine großartige Boxsportlerin, die das Potenzial besitzt, dieses Ziel zu erreichen. Eine echte Kämpferin aus Leidenschaft, mit viel Hingabe zu ihrem Sport und vor allem, was enorm wichtig ist, auch bodenständig bleibt…
Eine echte Fighterin – Ikram Kerwat
Geboren im Olympia-Jahr 1984, als beim Olympia-Turnier in Los Angeles nur Männer starteten, das zudem vom Ostblock boykottiert sowie von den Amerikanern beherrscht wurde, und als zudem beim „Gegen-Turnier des Ostens“, den „Wettkämpfen der Freundschaft“ in Havanna, fast nur Kubaner gewannen… Fast, denn der Schweriner Torsten Schmitz (Weltergewicht) entriss der kubanischen Box-Staffel wenigstens eine Goldene…
Klar, wer in so einem Jahr geboren wird, die bzw. der muß sich ganz einfach „durchboxen“… Das tat Ikram Kerwat – allen Widrigkeiten und allen Vorurteilen zum Trotze! Allein das ist schon einen WM-Gürtel wert.
Und wie meinte schon einer der es wissen muß, Lothar Döring, Handball-Olympiasieger 1980 und Trainer der erfolgreichen deutschen Frauen-Handball-Nationalmannschaft nach der Wende: „Ich denke, es ist leichter Frauen zu trainieren, weil Frauen einfach williger sind im positiven Sinn. Frauenarbeiten ihre Probleme ab, Frauen sind belastbarer als Männer. Frauen fragen nicht so viel, warum so und nicht so. Wenn Frauen es einmal gefressen haben, dann ziehen sie bedingungslos mit…“
Auch Ikram Kerwat weiß, was sie will – und ist dabei erfolgreich. Wenn heute von Politikern viel über erfolgreiche Integration geredet wird, Ikram Kerwat lebt diese einfach – ohne viel Gerede!
Und in M-V ist sie ebenfalls eine gute Bekannte – seit ihrer Bronze-Medaille bei den Deutschen Meisterschaften 2010 in Wismar…
Zusammen mit ihren Trainern Sven Ottke und Ulli Wegner, einst in den 1960ern aktiver Boxsportler beim ASK Vorwärts Rostock, wird sie ihre Ziele bestimmt erreichen.
Nachgefragt bei Ikram Kerwat
Ikram Kerwat über ihr derzeitiges Training, ihren Weg zum Boxsport, Profiboxen und Olympia, das „typisch“ Tunesische bzw. Deutsche an ihr und ihren sportiven Fahrplan 2016
„Möchte meinem Ziel jeden Tag ein Schritt näher kommen…“
Frage: Ikram, Sie eilen von Sieg zu Sieg… Wie sieht Ihr gegenwärtiges Training aus? Was fasziniert Sie insbesondere am Boxsport?
Ikram Kerwat: Momentan steht wieder die Vorbereitung auf unseren nächsten Kampf im Juli an. Das heißt zweimal täglich Training, am Wochenende einmal. Etwa drei Wochen vor dem Kampf gehen wir wieder ins Trainingslager und bereiten uns sehr konzentriert auf die Gegnerin vor.
Das Faszinierende am Boxen ist für mich, dass es viel mehr ist als bloßes Herumschlagen. Ähnlich wie das Schachspielen geht es im Boxen darum, strategisch zu arbeiten, jeder Zug oder Schlag bereitet den nächsten vor. Dabei muss abgewogen werden, wie der Gegenüber wohl reagiert. Auch geht es darum, die Gegnerin kontinuierlich zu beschäftigen und ihr nicht die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Strategie umzusetzen. Und das alles muss in wenigen Sekunden überlegt, entschieden und umgesetzt werden. Boxen ist also eine sehr taktisch geprägte Sportart, bei der der Kopf bestimmt, was der Körper macht.
Frage: Sie sind eine echte Kämpferin, lassen sich von Widrigkeiten und Widerständen nicht aufhalten. Wann kam der Moment: Ich will Boxerin werden! Und dann: Ich will den WM-Gürtel!
Ikram Kerwat: Der Wunsch, Boxerin zu werden, erwachte in mir als ich als 9jährige zufällig das Boxtraining tunesischer Soldaten in meiner Heimatstadt Beja sah. Wie gefesselt konnte ich damals die – wie ich heute weiß – sehr strukturierten und auf Taktik ausgelegten Trainingsabläufe beobachten. Die Arbeit an den riesigen Sandsäcken, die Partnerarbeit und die gesamte Atmosphäre hypnotisierten mich regelrecht. Von da an wollte ich das auch machen, Boxen.
Als ich 1996 nach Deutschland kam und mich immer mehr mit dem Boxen auf Meisterschaftsebene beschäftigte, sah ich Bilder von Ali und Tyson, wie sie nach ihren Kämpfen ihre Arme in die Höhe streckten und diese wundervollen Gürtel in ihren Händen hielten. Dieses Gefühl wollte ich auch einmal erleben. Und das kann man eben nur, wenn man Weltmeister(in) im Boxen wird.
Frage: Eigentlich könnten Sie ja auch beim Box-Turnier in Rio starten, nachdem der internationale Boxverband die Box-Turniere für die Frauen und die Herren auch für Profis öffnete… Wäre das nicht noch kurzfristig etwas für Sie?
Ikram Kerwat: Olympia ist für mich überhaupt keine Option. Ich finde es den vielen hart arbeitenden Amateuren gegenüber nicht fair, wenn sie gegen Profisportler antreten müssen. Wir Profis haben das ganze Jahr über optimale Trainingsbedingungen und ein Team, das sich um uns kümmert, von der Öffentlichkeitsarbeit und der Medienpräsenz ganz zu schweigen. Aus diesem Grund gehört meines Erachtens die nur alle vier Jahre stattfindende Olympiade mit der entsprechenden Medienpräsenz ganz allein den Amateuren. Profiboxen hat bei der Olympiade nichts zu suchen.
Frage: Sie sind eine gebürtige Tunesierin, leben seit 1997 in Deutschland und sind Berlinerin. Wenn Sie beide Kulturen miteinander vergleichen, ganz subjektiv… Was ist das „typisch“ Tunesische an Ihnen und was mittlerweile das „typisch“ Deutsche?
Ikram Kerwat: Ich kam 1996 nach Deutschland, genauer gesagt nach Frankfurt am Main, ich bin also „ein hesse Mädsche“. 2009 zog ich erst nach Berlin, ich bin daher eher eine Wahl-Berlinerin. Typisch tunesisch ist wohl der eiserne Wille, etwas zu erreichen. Das typisch Deutsche an mir ist die Disziplin. Beides ist unbedingt notwendig, wenn man etwas erreichen will, ganz egal in welchem Bereich oder in welcher Sportart. Als Tunesierin bin ich selbstverständlich auch ein sehr kommunikativer und aufgeschlossener Mensch. Das brauche ich zwar nicht im Ring, ist aber außerhalb des Ringes immer wieder ein großer Vorteil, um mit Menschen in Kontakt zu kommen und Neues zu entdecken. Ach ja, und scharfes Essen liebe ich natürlich auch – so wie es sich für die tunesische Küche gehört.
Frage: Und… Wie sieht Ihr genauer sportlicher Fahrplan 2016 aus?
Ikram Kerwat: Ich versuche, meinem Ziel jeden Tag einen Schritt näher zu kommen. Jede Trainingseinheit, jeder Kampf soll mich dem Weltmeisterschaftstitel näher bringen. Dabei ist es wichtig, alles um mich herum aufeinander abzustimmen und zwar so, dass kein Teil zu kurz kommt. Das ist manchmal das Schwierigste, aber es funktioniert zurzeit sehr gut. Das Wichtigste bei all dem Erfolg ist aber, dankbar zu sein, mit beiden Beinen fest auf dem Boden und weiterhin fokussiert zu bleiben. Auch dafür ist ein starkes und funktionierendes Team außerhalb des Rings wichtig.
Vielen Dank, dann weiterhin – persönlich, beruflich und sportlich – alles erdenklich Gute und maximale Erfolge innerhalb und außerhalb des Box-Rings!
Boxsportlicher Exkurs…
Auch Mecklenburg-Vorpommern ist bekanntlich eine Hochburg des Boxsportes – und das schon seit mehr als 100 Jahren…
Und natürlich sorgten Box-Kämpfer aus M-V ebenfalls in den letzten Jahren für viel Furore: Der gebürtige Stralsunder und Wahl-Schweriner Jürgen Brähmer, Jahrgang 1978, ist Weltmeister der WBA im Halbschwergewicht. Zudem ist er Trainer von Tyron Zeuge, der ebenfalls WM-Ambitionen hegt. Von seinen 50 Profi-Kämpfen gewann Jürgen Brähmer 48!
Profi-WM-Titel nach M-V zu holen, das gelang auch dem Greifswalder Profi Sebastian Sylvester (IBF-Weltmeister im Mittelgewicht 2009/11) sowie dem gebürtigen Neubrandenburger Sebastian Zbik (Interims-Weltmeister der WBC 2009/10 und WBC-Weltmeister im Mittelgewicht 2011).
Unvergessen auch Box-Legende Max Schmeling, der 1905 im vorpommerschen Klein Luckow geboren wurde, und zwischen 1930 und 1932 Weltmeister im Schwergewicht war.
MVs Amateure warten weiterhin auf WM-Titel
Auf den ersten Weltmeister-Titel im Amateur-Boxen warten die Faustkämpfer aus M-V indes immer noch. Bei den ersten WM 1974 gewann der aus Neukloster stammende Bernd Wittenburg die Bronze-Medaille im Mittelgewicht. Acht Jahre später, 1982, erkämpfte dann Richard Nowakowski (SC Traktor Schwerin) ebenfalls WM-Bronze im Federgewicht. Drei Medaillen für den SC Traktor Schwerin gab es dann bei den WM 1986 in Reno: Silber für Rene Breitbarth im Bantamgewicht, jeweils Bronze für Andreas Zülow im Federgewicht und Torsten Schmitz im Weltergewicht.
1989 in Moskau holten die SCT-Faustkämpfer Andreas Zülow (Leichtgewicht) und Torsten Schmitz (Halbmittelgewicht) Silber nach Schwerin. 1991 gewann Schmitz dann noch Bronze. Edelmetall für Schwerin erkämpften zudem Martin Dreßen 2003 und Arajik Marutjan 2013 (jeweils Bronze).
Viermal Olympia-Gold für M-V
Olympiasiege für M-V schafften bislang Jochen Bachfeld (1976), Andreas Zülow (1988), Andreas Tews (1992) und Peter Kadiru (Olympische Jugend-Spiele 2014).
Im Frauen-Bereich ist, wie erwähnt, Sarah Scheurich die derzeit beste Boxsportlerin in M-V. Sarah wurde Jugend-WM-Dritte 2011, Vize-Europameisterin 2014 und Dritte der Europa-Spiele 2015 jeweils im Mittelgewicht.
Last but not least: Bei der Box-Gala am 16.Juli in der Max-Schmeling-Halle in Berlin, mit Arthur Abraham und Tyron Zeuge, der von Jürgen Brähmer betreut wird, steht Ikram Kerwat ein mega-schwerer Fight bevor – gegen die dreifache Weltmeisterin Ramona Kühne…
MV-Schlagzeilen drückt dafür die Daumen…
Marko Michels