20 Jahre deutsche Einheit – 20 Jahre MV

Interview mit der Mecklenburger Bundestagsabgeordneten Karin Strenz

20 Jahre deutsche Einheit – Erfolgsgeschichte oder Schönrednerei.
In wenigen Wochen ist es so weit: Deutschland feiert – zumindest das offizielle. Das inoffizielle ist dabei schon etwas nachdenklicher.

Ob aber tatsächlich Grund zur Zufriedenheit oder zu Selbstkritik besteht – dazu fragte MV-Schlagzeilen bei der mecklenburgischen Bundestagsabgeordneten, Frau Karin Strenz, nach.

„Ein Glas Creman statt Sekt oder Selters …“

Frage: 20 Jahre deutsche Einheit – was bedeutet für Sie persönlich dieser Jahrestag?

Karin Strenz: Ich empfinde immer noch große Freude, wenn ich an den 3. Oktober 1990 denke. Niemand hat dem Mauerfall eine schönere Liebeserklärung gemacht als Willy Brandt: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Das gilt für mich, auch wenn es im Alltag Probleme zwischen Ost und West geben mag. Aber auch Süddeutsche und Norddeutsche sind sich ja bisweilen fremd.

Frage: Nun äußerte sich gerade der erste und letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maiziere (CDU), über den Charakter der verblichenen DDR. Wie vor Jahresfrist MV-Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) plädiert er gegen die Bezeichnung der DDR als Unrechtsstaat. Wie ist hier Ihre Meinung?

Karin Strenz: Ach, als was man die DDR heute bezeichnet, ist für mich zweitrangig, so lange man aus ihr im Nachhinein keinen Rechtsstaat zu machen versucht. Dass der Begriff „Unrechtsstaat“ so auf Widerstand stößt, hat ja vor allem einen Grund: Mancher nimmt ihn zu persönlich und meint, damit würde seine Lebensleistung in der DDR entwertet. Das ist Quatsch. Natürlich haben sich die allermeisten so anständig verhalten, wie es in einer Diktatur möglich ist.

Frage: 20 Jahre vereintes Deutschland – das bedeutet auch eine Zeit der Versäumnisse. Die Linkspartei hat ihre Geschichte nie konsequent aufgearbeitet, die Blockparteien auch nicht. Die SPD tat lange so, als seien ihre Mitglieder ohne Schuld und Sünde. Viele waren plötzlich Widerstandskämpfer. Ein früherer politischer Häftling in Bautzen meinte nach 1990 „Wer wirklich gelitten hat, lebt nicht von großen Sprüchen!“ Wie beurteilen Sie den Umgang mit den einstigen echten Widerstandskämpfern und Nichtangepassten in der DDR im heutigen vereinten Deutschland?

Karin Strenz: Wir haben ja die einstigen Oppositionellen mit politischem Einfluss auch im vereinten Deutschland. Ulrike Poppe ist jetzt Stasi-Beauftragte in Brandenburg. Nach Joachim Gauck ist sogar eine Bundesbehörde benannt worden. Ich bestreite aber nicht, dass es nur wenige in der Politik nach ganz oben geschafft haben. Mancher war vielleicht zu idealistisch, um sich in der Politik, in der ohne Kompromisse nichts geht, dauerhaft zurecht zu finden und zu engagieren. Andere hatten aus meiner Sicht Mühe, ein anderes Thema als die Aufarbeitung der Vergangenheit zu entdecken.

Das ist gar kein Vorwurf: Wer jahrelang, sogar jahrzehntelang schikaniert, gedemütigt und verfolgt worden ist, dem fällt es sicher schwer, den Bundesstraßenbau, die Rentenfrage oder den Streit über die Praxisgebühr plötzlich als bedeutend zu begreifen. Trauriger bin ich darüber, dass wir die Aufbruchsstimmung der Wendezeit, als so viele politisch mitmischen wollten, nicht bewahrt haben.

Frage: Wenn Sie auf 20 Jahre politische Arbeit zurückblicken … Was waren Ihre Höhepunkte und Enttäuschungen zwischen 1990 und 2010?

Karin Strenz: Da ich aus Prinzip ein optimistischer Mensch bin, bleibt natürlich vor allem das Positive in Erinnerung. Ich war 22, als die Mauer fiel und sich auf einmal die Welt für mich öffnete. Ein paar Jahre später bin ich in die Politik hineingeraten. Das erste Mandat vergisst man natürlich nie. Als Kommunalpolitikerin im Parchimer Kreistag habe ich von 1999 bis 2009 unendlich viel gelernt – und davon zehre ich noch heute im Bundestag. Ein schwerer Schlag war der Verlust meines Landtagsmandat im Jahr 2005, weil ich mich damals richtig ausgebremst fühlte. Heute denke ich, dass diese harte Zeit etwas Heilsames hatte. Ich weiß, wie kostbar echte Freunde sind, und dass Politik nicht alles sein darf im Leben.

Frage: Das Ansehen der politischen Klasse, ob Regierung oder Opposition, ist zurzeit alles andere als gut. Die Kommunikation der Politiker mit dem Volk, aber auch untereinander hat zum Teil ein unterstes Niveau erreicht und irgendwo zwischen „Leichtmatrosen“ und „Gurkentruppen“ angesiedelt. Auch wenn Sie im politischen „Glashaus“ sitzen … Was läuft schief bei der politischen Elite im Land und im Bund?

Karin Strenz: Ich glaube nicht, dass es früher manierlicher zugegangen ist in der Politik, eher im Gegenteil. Nehmen Sie nur mal den ewigen Chef der SPD-Bundestagsfraktion, Herbert Wehner, den Rekordhalter, was Ordnungsrufe im Parlament angeht. Der empfahl einem seiner Parteifreunde, er solle sich in „Genosse Arschloch“ umbenennen. Verglichen mit Wehner sind die Politiker heute brav wie Chorknaben. „Gurkentruppe“ wäre bei Wehner eine Liebeserklärung gewesen.

Wenn mich Leute auf die Zwistigkeiten in der Regierung ansprechen, sage ich manchmal: „Bedenken Sie, was wir für riesige Aufgaben haben. Nehmen Sie nur einmal das Sparpaket, das größte in der Geschichte der Bundesrepublik. Und nun stellen Sie sich bitte vor, was bei Ihnen zu Hause los wäre, wenn die Familie plötzlich feststellt: Wir können uns manches, was uns über die Jahre lieb und teuer war, nicht mehr leisten: der Mann den neuen Laptop, die Frau das Fitnessstudio, der Sohn die Dauerkarte fürs Fußballstadion und die Tochter den Klavierunterricht – und alle zusammen den Sommerurlaub. Ich wette, da gäbe es auch einige Verteilungskämpfe unterm Dach.“

Frage: Zu aktuellen Entwicklungen … Um Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke, Bildungs-Chipkarte für Kinder aus Hartz IV-Familien, Schuldenabbau und Steuervereinfachung wird zurzeit heftig gestritten – am meisten innerhalb der Union. Ist die CDU – ähnlich wie die SPD – gerade damit „beschäftigt“, ihren Charakter, gerade als Volkspartei, zu verlieren?

Karin Strenz: Naja, das ist eine Frage der Definition. Früher holte eine Volkspartei bei Wahlen 45 Prozent plus x. Mancherorts hätte es genügt, einen Pappkameraden als Kandidaten aufzustellen und SPD oder CDU drauf zu schreiben. Da hätte der Opa im Ruhrpott dem Enkel die Ohren lang gezogen, wenn der CDU gewählt hätte. Und in Baden-Württemberg wäre Oma zur Beichte geeilt, wenn die Enkelin für die Sozis gestimmt hätte. Die Zeiten sind vorbei, weil die Stammwählerschaft kleiner geworden ist und die Gesellschaft heute viel individueller ist. Die Union muss aber weiterhin das Ziel haben, eine Partei für alle Bürger zu sein, ohne dass sie beliebig wird.

Frage: Wie werden Sie den 20. Geburtstag des vereinten Deutschlands feiern? Mit Sekt oder Selters?

Karin Strenz: Weder noch. Ich reise am 3. Oktober als Delegierte der Parlamentarischen Vertretung des Europarats nach Straßburg, also ins Elsass. Vielleicht gönne ich mir am Abend ein Glas Créman, einen elsässischen Schaumwein.

Dann weiterhin maximale Erfolge für Sie!

Hintergrund
Die studierte Pädagogin und Erziehungswissenschaftlerin Karin Strenz, geboren 1967 in Lübz, war zwischen 2002 und 2009 (mit Unterbrechung) Mitglied des Landtages Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin.  Seit Oktober 2009 ist sie Bundestagsabgeordnete (Wahlkreis Wismar – Nordwestmecklenburg – Parchim).

Anmerkung: Am 14.Oktober 1990 fand die erste freie, gleiche und demokratische Wahl zum Landtag Mecklenburg-Vorpommern nach dem zweiten Weltkrieg statt – 11 Tage nach der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990.  Wahlsieger war damals die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Prof. Dr. Alfred Gomolka, der von 1990 bis 1992 als Ministerpräsident regierte. Sitz des Landtages ist das Schloss in Schwerin.

Übrigens
: Die längste Regierungsbeteiligung in MV seit 1990 weist die SPD auf. Seit 1994 sind die Sozialdemokraten – in verschiedenen Koalitionen – in der Landesregierung vertreten.

Text/Fotos: Marko Michels